„Halbwesen“: Sibylle Lewitscharoffs Entgleisung und ihre Entschuldigung

Bei den „Dresdner Reden“ hat die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff über den Beginn des Lebens und den Tod gesprochen – und ihre Überlegungen zogen heftige Empörung nach sich. Personal und Ort waren wie für einen Skandal geschaffen. Die „Dresdner Reden“ im Staatschauspiel Dresden sind eine vornehme und oft prominent besetzte Veranstaltung. Und hier sprach Lewitscharoff, die im vergangenen Jahr mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, der höchsten Ehrung, die in Deutschland für Literatur vergeben wird, zu dem Thema „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“.

Vor allem ein Zitat blieb hängen und läuft seitdem durch die Medien: Das “gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse” erscheine Lewitscharoff als so widerwärtig, “dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.”

Das musste einen Skandal provozieren. Doch zunächst geschah nichts, wie Stefan Niggemeier festhält. Die Sächsische Zeitung, die von der Rede berichtet hatte, sprach noch von „Mut“ und davon, dass eine Diskussion begonnen werden könnte. Niggemeier wirft deshalb einen Blick auf die Veranstaltungspraxis: Die Sächsische Zeitung richtet die „Dresdner Reden“ nämlich gemeinsam mit dem Staatsschauspiel Dresden aus. Und Niggemeier stellt fest, dass erst der Chefdramaturg des Schauspielhauses mit einem offenen Brief sich deutlich distanzierte und damit schließlich den Skandal initiierte. Nicht die Zeitung also, die kritisch über diese Rede berichtete, sondern der Dramaturg, der die Worte so nicht stehen lassen wollte.

Mittlerweile ist aus der Rede tatsächlich ein Skandal geworden, die Empörung ist überall nachzulesen. Und mittlerweile hat Sibylle Lewitscharoff auch über einzelne Aussagen ihr Bedauern ausgedrückt und einige Worte wollte sie ausdrücklich zurücknehmen. Zugleich hat sie auf die Meinungsfreiheit hingewiesen.

Doch dieser Hinweis, ja, diese Ausrede, greife zu kurz, wie Stefan Rose auf den Fliegenden Brettern in spöttischem Ton ausführt. Sie dürfe ihre Probleme mit lesbischen Frauen haben, sie dürfe selbstverständlich gegen die künstliche Befruchtung sein. Das sei ihr zugestanden. Aber in einer öffentlichen Rede, diese Kinder als Halbwesen zu bezeichnen sei etwas ganz anderes. Und Rose weist auf den wohlüberlegten Charakter einer solchen Rede hin. Dort fällt kein unüberlegtes Wort.

Ein kalkulierter Skandal also? Ein Skandal, der für das Thema künstliche Befruchtung diese Aufmerksamkeit schaffen sollte? Das Thema sei durchaus diskussionswürdig, so Rose, doch Lewitscharoffs Blick auf die Kinder verzerre von Anfang an jede Diskussion. Sie weiß das selbst, wenn Sie zugibt, dass die Kinder am wenigsten dafür könnten. Aber ihre Abscheu schließt eben auch sie mit ein. Deshalb finden sich auch zum Beispiel in den katholischen Blogs scharfe Gegner der Rede, denn das katholische Verbot einer künstlichen Befruchtung bezieht das stärkste Argument gerade aus dem Recht des Lebens, das bereits mit der Zeugung beginne. Die Kritik richtet sich also gegen den Umgang mit denjenigen befruchteten Eizellen, die nicht für die Fortpflanzung gebraucht werden.

Lewitscharoffs Bedauern gilt jedenfalls vor allem dem einzelnen Satz mit den „Halbwesen“, der zu scharf gewesen sei, keinesfalls der gesamten Rede und ihren Thesen. Doch wie nimmt man einen Satz, einmal gefallen, zurück? Fritz B. Simon wendet dieses Problem auf den gesamten Skandal. Der Aufschrei wird so groß, weil nun diese Autorin für ein Programm oder sogar eine Ideologie steht, mit der der Literaturbetrieb nichts zu tun haben will. Da soll nun etwas zurückgenommen werden. Auch der Suhrkamp-Verlag distanzierte sich mittlerweile von seiner Autorin, denn ihre Meinung sei nicht mit der Meinung des Verlags zu verwechseln.

Vielleicht kann immerhin der Reaktion auf die Rede etwas Gutes abgewonnen werden, so jedenfalls auf dem Theaterblog nachtkritik. Die eigene Haltung dem Anderen entgegensetzen, so wie der Chefdramaturg Robert Koall dies mit seinem offenen Brief unternahm. Der kann nun als kritische Stimme des Theaters in Anspruch genommen werden. Wenn die Öffentlichkeit versage – es regte sich kein Protest während des Vortrags und die öffentliche Berichterstattung war ja zunächst zurückhaltend –, dann könne die klare Position des Veranstalters eben die notwendige Diskussion in Gang bringen. Ob aus dem Skandal allerdings noch eine konstruktive Diskussion über ethische Fragen und den gesellschaftlichen Umgang mit Tod und Lebensbeginn wird, ist momentan eher fraglich.

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